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Jan Christoph Wiechmann „Romeo und Julia in Texas

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Romeo und Julia in Texas

Ein Junge und ein Mädchen verlieben sich. Er ist Latino, siebzehn Jahre alt, sie ist weiß, vierzehn Jahre jung. Tief in der amerikanischen Provinz macht ihn dieser Altersunterschied zum Verbrecher. Doch weder Gefängnis noch seine Brandmarkung als Sexualstraftäter bringen Frank und Nikki auseinander. Die Geschichte einer unglaublichen Liebe.


Jan-Christoph Wiechmann, Neon, 19.07.2010


Es ist ein bedrückendes Gespräch, das die Liebenden an diesem Junimorgen des Jahres 2010 in ihrem Heimatdorf Caldwell im Südosten von Texas führen. »Ich werde es den Kindern beichten«, sagt Frank. »Wie willst du es tun?«, fragt Nikki. »Ich sage es, wie es ist. Ich bin ein Sexualstraftäter.« – »Sie können mit dem Wort nichts anfangen.« – »Ich erkläre ihnen, das ist der Grund, warum andere Kinder nicht zu uns nach Hause kommen. Warum ich im Gefängnis war. Warum ich nicht auf den Spielplatz darf. Ich möchte nicht, dass sie es von Freunden in der Schule erfahren. Du kennst Caldwell.«

Kurz ist es still. Frank steigen Tränen in die Augen. In der Ferne summen Ventilatoren. »Sagst du ihnen, dass es um mich ging?«, fragt Nikki.

»Ich erzähle alles, die ganze Geschichte.« Frank wischt sich die Tränen mit seinen mächtigen Händen aus dem Gesicht. Er holt sich ein Bier und blickt hinaus in den verdorrten Garten. Es wird wieder ein heißer Tag in der Tiefebene von Texas, vierzig Grad sind angesagt. In den Zedern rasseln die Zikaden. Nikki packt seine Hand. Da stehen sie eine Weile innig umschlungen. Der Kinderschänder und sein Opfer. Zwei Liebende. Ganz wie man will.

Das Verbrechen von Caldwell ereignet sich in einer jener drückend heißen Jahrmarktnächte, in denen sie Rodeo reiten und Kojoten schießen und am Lagerfeuer Grashüpfer grillen. Die Jungen tragen Cowboyhüte, die Mädchen Bluejeans und karierte Blusen, und zur Musik einer Countryband tanzen sie auf der Festwiese, bis ihnen der Morgen als pinkfarbene Sichel erscheint.

In jener Nacht auf den 30. September 1996 führt Frank Rodriguez seine Freundin Lorelei Nikola Prescott stolz über den Rummelplatz. Seit fünf Monaten sind sie zusammen: der Footballstar des Highschool-Teams »Hornets« und die Klarinettistin des Schulorchesters. Ein ungewöhnliches Paar, gewiss, er ein Latino mit Spitznamen »Bulldog«, achtzehn Jahre und katholisch, 140 Kilo schwer, Sohn eines mexikanischen Müllmanns und einer Köchin. Sie, die langbeinige Weiße, fünfzehn Jahre erst, aber größer als Frank und protestantisch, die Tochter einer eingesessenen Familie mit böhmischen Wurzeln, der Ölfelder und Rinderherden gehören.

Frank und Nikki sind nach Aussagen von Zeugen ein glückliches Paar in dieser Nacht. Sie fahren Achterbahn und gehen tanzen, sie besuchen die Viehauktion und essen Spanferkel vom Grill. Dann fahren sie in Franks altem Buick zu ihm nach Hause über den Highway 36 durch Baumwollfelder und Wassermelonenplantagen. Sie halten am Bahndamm und lieben sich zur Musik von Sheryl Crow, »All I wanna do is have some fun«.

Kurz vor Mitternacht holt Nikkis Mutter ihre Tochter im Haus des Freundes ab. So gehört es sich in Texas, wo Straßenplakate für sexuelle Abstinenz werben und die Kirche vor Geschlechtsverkehr vor der Ehe warnt. Dort, auf der kleinen Farm am Ende einer Sandstraße, sehen sich Frank und Nikki ein vorerst letztes Mal. Es endet eine innige Schulromanze und es beginnt ein Lehrstück über Sex, Politik und Rassismus im tiefen Süden der USA.

Um 3.35 Uhr derselben Nacht, so steht es im Polizeibericht, Seite zwei, betritt Melissa Wiederhold mit ihrer Tochter Nikki das Revier von Sheriff Kuehn am Highway 21. Vorausgegangen ist ein Streit, der nach Aussagen der Beteiligten so verläuft: »Wo ist deine Schwester?«, fragt die Mutter. »Wohl noch auf der Festwiese«, antwortet Nikki. »Du wolltest sie nach Hause bringen, hast du versprochen.« – »Nein, ich dachte, du holst sie ab.« – »Ihr habt doch nur Sex im Kopf. Mir reicht es, ich zeige Frank an«, schreit die Mutter.

Es ist eher als Warnschuss gemeint, als Ohrfeige für das bockige Verhalten der pubertierenden Tochter. Nikkis Großmutter versucht noch zu schlichten, aber Frau Wiederhold greift sich Nikki und betritt das Revier mit den Worten: »Sheriff, ich will Anzeige erstatten wegen Sex mit einer Minderjährigen.« Sie sieht dies, sagt sie später, auch als Dienst im Auftrag Gottes.

So kommt Sheriff Kuehn ins Spiel, ein alter Fuchs, schon über sechzig, die Haare weiß, der Bauch eine Kugel, er hat die Nachtschicht. Ein gewissenhafter Ordnungshüter mit der Sehnsucht nach dem großen Fall in diesem Nest der Langeweile. Sein Job in Caldwell besteht darin, Strafzettel zu verteilen und Rinderdiebe zu stellen, mit Glück ist mal ein Drogendelikt dabei.

»Howdy Melissa«, grüßt er die Mutter, man kennt sich. »Howdy Sheriff«, sagt die Mutter. »Meine Tochter ist noch nicht sechzehn und hat Sex mit ihrem drei Jahre älteren Freund.« »Stimmt das?«, fragt der Sheriff. Nikki schweigt. »Wenn du die Aussage verweigerst, muss ich dich in den Knast stecken«, droht er. Es ist sein alter Trick. Knast wirkt immer. Bei Kojak wie bei Kuehn.

»Ich liebe Frank«, stammelt Nikki da, »ich will ihn nicht verlieren.« »Vielleicht passiert ihm nichts, wenn du nur etwas plauderst«, rät Sheriff Kuehn. »Wir hatten Sex«, gibt Nikki zu, »aber ich war diejenige, die es unbedingt wollte. Und Mama wusste davon, sie nahm mich und Frank mit zur Verhütungsberatung.« Der Sheriff blickt zur Mutter. Die Mutter nickt. Der Sheriff fragt: »Wann ging es los mit dem Sex? Wie oft habt ihr es gemacht? Und wo?«

Sheriff Kuehn schickt Nikki zur »Untersuchung auf Vergewaltigung« ins lokale Krankenhaus St. Joseph. Der Arzt inspiziert Vagina, Mund und Anus, er entnimmt DNA-Spuren, und in den Morgenstunden des 2. Oktober steht – in der Bürokratensprache des Amtes – fest: »Frank Rodriguez Junior hat am 29. September 1996 nach Christus im Kreis Burleson, Staat Texas, wissentlich und vorsätzlich die Penetration des weiblichen Sexualorgans der Lorelei Nikola Prescott durch sein Sexualorgan verursacht, eines Kindes, das jünger als siebzehn war und nicht seine Ehefrau.«

Wenn im Frühjahr die Winde kommen, liegt die Kreisstadt Caldwell sandumhüllt in der texanischen Ebene wie ein Wüstendorf in der Sahara. Nur das Gerichtsgebäude schaut dann heraus, ein massiver Backsteinbau auf dem Dorfplatz. Caldwell ist eher ein Dorf denn eine Kreisstadt, 5460 Einwohner, zwei Tankstellen, eine Schule, zwölf Kirchen. Die Menschen schließen ihre Häuser und Autos nicht ab. Sie wählen seit Ewigkeiten Republikaner, weil sie die Partei der Familienwerte ist. Wer durch den Ort geht, muss damit rechnen, an jeder Ecke freundlich gegrüßt zu werden. Nur die stämmige Frau mit den dicken Brillengläsern grüßt nicht. Sie zischt ihre Worte eher. Es klingt wie ein Fauchen.

Melissa Wiederhold, 45, fünf Kinder, huscht durch den Vorgarten wie ein fahriger Geist. Durch ihr Gesicht ziehen sich die Falten schlafloser Jahre. Für die einen ist sie noch immer die Heldin des Dorfes, eine aufrechte Kämpferin für Gottes Werte. Für die anderen eine Verräterin. Wie sie sich selber sieht, will Nikki von ihr wissen, aber sie reicht solche Fragen lieber weiter an Gott. »Der Herr sprach damals sein Urteil.« Ihr Standardsatz lautet: »Ich wollte Nikki eine Schwangerschaft ersparen. Ich selbst bekam sie mit fünfzehn. Da endete mein Traum von einer Karriere als Countrysängerin in Nashville.«

In jener Septembernacht 1996 kann Melissa Wiederhold nicht schlafen. Sie hat fünf Kinder, ihr erster Mann, Nikkis Vater, starb bei einem Verkehrsunfall, ihre zweite Ehe mit einem Archäologen steht vor dem Aus. Ihr Vater, ein konservativer Böhme, hat immer vor Nikkis Techtelmechtel mit dem Latino gewarnt. Und auch ihre Kirche macht Druck, die fundamentalistische Brethren Church, in der sie sonntags in Reihe eins sitzt und Predigten über die Sünde vorehelichen Geschlechtsverkehrs hört. Aber eine Gefängnisstrafe für Frank? Das geht ihr doch zu weit.

Am folgenden Morgen geht sie zu Sheriff Kuehn und will die Anzeige zurückziehen, doch diese ist nun im System der Justiz, Fall 11549, »Staat Texas versus Frank Rodriguez« – ein Sexualverbrechen und kein ganz unwillkommener Fall für die Lokaljustiz. In den USA werden Richter vom Volk gewählt, sie brauchen hochkarätige Fälle, um sich als Kämpfer wider die Unzucht zu profilieren. Caldwell hat nun sein erstes Sexualverbrechen des Jahres. Oder – in der Sprache der Straße: Ein Mexikaner vergeht sich an einem weißen Kind.

Frank sieht den braunen Sheriffwagen schon von weitem, er nähert sich schaukelnd über die Sandstraße wie ein Schiff in den Wellen. Er schiebt den letzten Kautabak tief in den Winkel seines Mundes.

»Du hast mich erwartet, Frank?«, fragt der Sheriff. Man kennt sich. Frank nickt. »Willst du etwas zurücklassen?« Frank legt Ringe und die Halskette ab, das Kreuz Jesu Christi. Er reicht sie Daniel, dreizehn, seinem jüngsten Bruder, mit dem er sich das Zimmer genau so teilt wie mit den fünf anderen Geschwistern und zwei Adoptivbrüdern. Dann schnappen die Handschellen zu. »Du bist verhaftet wegen Verdachts der Kindesvergewaltigung«, spricht Sheriff Kuehn.

Er verrichtet diesen Dienst, sagt er später, auch im Auftrag Gottes.

Es sei keine leichte Entscheidung gewesen, räumt er heute ein. Frank hat die Caldwell Hornets zu unvergesslichen Siegen gegen die Rockdale Tigers geführt. Er ist der »hometown hero«, ein Junge mit großer Zukunft im College-Football, womöglich gar in der NFL. Ein perfekter Left-Guard, stark wie ein Bär und furchtlos wie ein Marder in diesem Sport, der in Texas gleich nach Gott und Texas kommt.

Das Strafgesetz des Staates, Sektion 21.11, ist eindeutig. Auf sexuelle Beziehungen von Minderjährigen, deren Altersabstand mehr als drei Jahre beträgt, stehen zwei bis zwanzig Jahre Haft. Es ist mehrfach verschärft worden. Politiker beider großer Parteien führen eine Art Wettbewerb, wer unerbittlicher ist im Kampf gegen die Sexualisierung der Jugend. Das Thema ist ein Selbstläufer, ein Stimmengarant, kein Politiker will sich nachsagen lassen, weich oder permissiv zu sein.

Die Tage im Gefängnis sind die schlimmsten für Frank. Er sitzt in dem orangefarbenen Overall der Kapitalverbrecher allein in der Zelle des Reviers, die Wand speckig, das Klo ein Loch, über den Flur kriechen Kakerlaken. Seine Familie kann die Kaution in Höhe von 11 000 Dollar nicht zahlen.

Drei Tage nach seiner Verhaftung steht er als Häftling 14058057 vor dem Kreisgericht Caldwell, 3.Stock. Er ist allein. Wenige Minuten vor der Verhandlung erst wird ihm seine Pflichtverteidigerin zugeordnet, einen eigenen Anwalt kann er sich nicht leisten. »Was ist dein Fall?«, fragt sie. »Weiß ich nicht«, sagt Frank. »Warum bist du hier?« – »Ich liebe meine Freundin.« Die Anwältin verdreht die Augen. »Du kriegst bis zu zwanzig Jahre Knast, wenn du dich auf einen Prozess einlässt«, sagt sie. »Bist du schuldig?« – »Ich habe mit Nikki geschlafen. Wie soll ich das leugnen? Sie ist meine Freundin.« – »Willst du in den Knast?«, fragt sie. »Auf keinen Fall.« – »Dann bekenne dich schuldig, und ich hole eine Bewährungsstrafe heraus.«

Die Anhörung im Gericht dauert sieben Minuten. Frank bekennt sich der sexuellen Beziehung schuldig. Richter John Placke, 61, ein Republikaner mit politischen Ambitionen, verurteilt ihn gemäß Strafgesetzbuch Texas, Sektion 22.011, wegen sexuellen Missbrauchs zu sieben Jahren Haft, ausgesetzt zur Bewährung. Er verurteilt ihn außerdem zur Übernahme der Gerichtskosten und Vaginaluntersuchung und zum Besuch von Therapiesitzungen für Sexualstraftäter.

Damit kann ich leben, denkt Frank, doch dann folgt der schlimmste Urteilsspruch: »Kein Kontakt mit dem Opfer, bis sie achtzehn ist. Kein Kontakt jeder Art zu Personen unter achtzehn Jahren.«

Die Anwältin erklärt Frank noch im Saal die Lage: Er wird lebenslang als Sexualstraftäter geführt. Laut Artikel 42.12 Sektion 13b darf er sich nicht mehr in der Nähe von Schulen, Spielplätzen, Parks aufhalten. Er darf kein Football mehr spielen, nicht aufs College, nicht in einen anderen Landkreis. Auch zu Hause darf er nicht leben, weil vier seiner Geschwister minderjährig sind.

»Wo darf ich noch sein?«, fragt Frank. Sie blicken auf die Landkarte des Kreises Burleson und finden nur einen Ort, der in Frage kommt. Draußen, weit hinter dem Haus der Eltern in einem Wohnwagen.

Dann sagt sie noch etwas, das sich für immer in sein Gedächtnis brennt: »Wärst du ein Weißer, wärst du nicht hier. Dann hätten wir das beim Gottesdienst geregelt.«

Frank verlässt das Gerichtsgebäude. Er erinnert sich an den blauen Himmel und Wind in den Pekanbäumen. Vom Footballstar zum Kinderschänder in sieben Minuten. Aber er ist froh, in Freiheit zu sein.

Frank und Nikki lernten sich in den Frühjahrsferien am Lake Buchanan kennen. Er schaute ihr beim Schwimmen zu, das er nie gelernt hatte und lauschte ihren eloquenten Sätzen. Sie schaute ihm beim Holzhacken mit nacktem Oberkörper zu und beim Grillen von mit Bierdosen gefüllten Hühnern. Schon als Kind hatte Frank auf der Farm gearbeitet, Melonen geerntet und Heuballen geschleppt. Seine Kindheit war hart, aber sie hatte ihm den Körper eines Bodybuilders geschenkt.

Sie redeten viel damals am See, über seinen Traum vom Leben als Profifootballer und ihren Traum von einer Countryband und einer Zukunft außerhalb Caldwells. Sie küssten sich ein erstes Mal und verabredeten sich. Nikki war damals vierzehn, Frank siebzehn, und es lohnt sich hinzuhören, wenn sie heute davon erzählen:

»Ich gab ihm meine Telefonnummer, dann begann die längste Woche meines Lebens«, sagt Nikki. Frank grinst. »Ich habe dich zappeln lassen, oder?« – »Und wie. Ich habe den ganzen Tag zitternd vorm Telefon verbracht.« – »Ich auch.« – »Für mich warst du mein Teddybär, dabei stand ich eher auf schmale Kerle.« – »Für mich warst du eine Prinzessin. Unerreichbar in dieser Welt.«

Wie klein diese Welt war, merkt man, wenn sie vom ersten Date erzählen: »Wir sind damals in die Stadt gefahren und essen gegangen.« Nach Houston? »Nein, nach Bryan.« Wo liegt Bryan? »Außerhalb von College Station.« Und wo liegt College Station? »Na, am Highway 21.« In welchem Restaurant? »Pizza Hut. Du hast Pizza mit Peperoni genommen«, sagt Nikki. »Du auch«, sagt Frank. Sie kichern.

In den folgenden Monaten sahen sie sich nur selten. Vor der Schule fuhr Frank zu seiner Großmutter aufs Land und pflückte Blumen für Nikki. Doch wenn er sie ausführen wollte, musste er erst mal Rasen mähen für Nikkis böhmischen Großvater, die vier Hektar seines Landsitzes. Es war eine Art Deal zwischen dem Patriarchen und dem Latino: Arbeit gegen Liebe. Wenn Frank zu Besuch kommt, verdünnt der Großvater den Ketchup mit Wasser, damit der Mexikaner ihm nicht alles wegisst.

Irgendwann sagt der Großvater: Mit euch Latinos und uns ist das wie in der Tierwelt. Da gibt es rote Vögel und blaue Vögel. Die roten Vögel bleiben unter sich, und die blauen Vögel bleiben unter sich. Die vermischen sich nicht. Verstanden?

Nikki erfährt von Franks Verurteilung in der Schulcafeteria. Sie ging davon aus, dass er mit einer Verwarnung davonkommt, der gerichtliche Klaps auf die Hand wie beim Trinken eines Biers in der Öffentlichkeit. Franks Mutter, die als Köchin in der Schule arbeitet, stürmt auf Nikki zu und schimpft in gebrochenem Englisch: »Du hast meinen Sohn hinter Gitter gebracht. Du hast ihn auf dem Gewissen. Du wolltest den Sex, du Hure.« Der Rest geht unter in einem Orkan mexikanischer Schimpfwörter.

Margie Rodriguez, damals 37, ist eine kleine, dynamische Frau mit dem Kampfgeist einer Löwenmutter. Sechs eigene Kinder und zwei Adoptivkinder hat sie als Köchin durchgebracht. »Keines ist je kriminell geworden, keines hat die Highschool geschmissen, aber gegen die weiße Justiz sind wir machtlos«, schimpft sie.

Sie steht in ihrem baufälligen Farmhaus am Ortsrand, in dem Frank damals verhaftet wurde. An der Wand hängt eine vergilbte Kopie des letzten Abendmahls Jesu Christi, im Bad regnet es durch, ihr Haus verliert den Kampf gegen die Winde der Prärie. Sie braucht dringend eine Gallenoperation, hat aber keine Krankenversicherung. Nicht die Wirtschaftskrise zwang sie in die Knie und nicht die Armut auf dem Land, sondern die Feindseligkeit. »Wir waren immer aufrichtig in diesem Land, aber sie haben uns die Ehre genommen.« Hat sie Nikkis Mutter je konfrontiert? »Nein.« Warum nicht? »Das wird Gott erledigen.«

Frank zieht in einen alten Wohnwagen zwischen Nussbäumen und überwucherten Brombeerhecken weit hinter dem Elternhaus. An die Wand hängt er Nikkis Foto, die zerbrochenen Fensterscheiben ersetzt er durch Sperrholzplatten. Da er seine Geschwister nicht sehen darf, bringt ihm die Mutter das Essen in den Trailer. Aber Frank isst kaum. Er verfüttert es an die Katzen. Er verlässt den Trailer nur, um unter Aufsicht die 300 Stunden gemeinnützige Arbeit zu verrichten. Er schuftet auf der Müllkippe, streicht das Gerichtsgebäude, er jätet Unkraut auf dem Friedhof der Böhmen.

Einmal pro Woche fährt Frank anderthalb Stunden zum Pflichtkurs für Sexualstraftäter nach Hempstead. In einem kleinen Raum, unter dem Holzkreuz Christi, sitzen dort zehn Sexualstraftäter im Alter von achtzehn bis siebzig Jahren. Ein 62-jähriger Mann steht auf und gesteht: »Ich habe mich an meiner Enkeltochter vergangen.« Ein 45-Jähriger erzählt, wie er einen Cheerleader vergewaltigt hat. »Hurensohn«, denkt Frank. Er hat Lust, den Kerl zu verprügeln. Er fühlt sich dreckig und schuldig, er fragt sich, ob er nicht auch ein Perverser ist. Irgendwann ist Frank an der Reihe, er erzählt seine Geschichte. Danach ist es länger still. Der Therapeut sagt: »Fahr nach Hause und komm nicht wieder. Du bist kein Kinderschänder. Du gehörst hier nicht hin.«

Frank verbringt achtzehn Monate in seinem Trailer. Nur nachts, wenn alle im Bett sind, geht er hinunter zum Bahndamm. Er wandert auf den Schienen und betet. Und er zählt die Waggons der Santa Fe Railway Company und stellt sich vor, wo sie wohl hinfahren. Santa Fe? Los Angeles? Die Bahn ist seine einzige Verbindung zur Welt, und manches Mal wünscht er sich, einfach auf den Zug zu springen. Und dann wünscht er sich, vor den Zug zu springen. Und dann geht er nach Hause in seinen Trailer. »Nur meine Familie hat mich vom Selbstmord abgehalten«, sagt er heute. »Wir Latinos lassen unsere Mütter nicht im Stich.«

Die Geschichte von Frank und Nikki wabert durch Caldwell und spaltet dort die Bürger. Die Mütter der beiden Liebenden verbreiten Gerüchte im Dorf, über »Nikki die Hure« und »Frank den Perversen«. Unter den Latinos gibt es einen Namen für Mädchen wie Nikki: »jailbait«, »Knastköder«. Und unter alten Weißen gibt es einen Namen für Kerle wie Frank: »wetback«, »Nassrücken«.

Auch Nikki leidet unter Depressionen, sie kommt in psychiatrische Behandlung. Sie schließt sich in ihr Zimmer ein, ihre Noten werden schlecht, in der elften Klasse schmeißt sie die Schule. Sie will nun vor allem Geld verdienen und Franks Schulden beim Gericht abzahlen, 7200 Dollar. Sie bewirbt sich für einen Job am Gericht, das Frank verurteilte und bekommt eine Stelle in der Abteilung für Verkehrsdelikte. Der erste Strafzettel, der auf dem Schreibtisch landet, ist von Frank, er fuhr fünfzehn Stundenkilometer zu schnell auf dem Highway 36. Sie sieht das, sagt sie später, als Zeichen Gottes.

Sechs Monate lang haben Frank und Nikki keinen Kontakt. Erst als es Frühling wird, überbringt Franks Freund Jimmy Nikki heimlich einen Zettel. Darauf steht: »Er liebt dich noch.« »Ich ihn auch«, sagt Nikki und weint. Vom Telefon des Freundes aus telefonieren die Liebenden vier Stunden. Sie sagen nicht viel mehr als: »Ich vermisse dich. Ich liebe dich. Ich warte auf dich.« Dann beendet Frank das Gespräch mit den Worten: »Mir drohen zwanzig Jahre Gefängnis, wenn sie uns erwischen.«

Da kommt Franks Großmutter ins Spiel, Josefina Vega, 72, elf Kinder, 43 Enkel, eine kleine, eingefallene Frau, die ihr linkes Bein an die Diabetes verlor. Sie lebt allein in einer Hütte am Waldrand nahe Caldwell und wartet, dass Gott sie endlich heimholt. Auch nach all den Jahren in Amerika spricht sie nur gebrochen Englisch. »Du findest keine bessere Frau als Nikki«, hat sie ihrem Enkel Frank stets geraten. Etwa ein halbes Jahr nach Franks Verhaftung ruft sie ihn an und sagt: »Bitte komm vorbei auf einen Kaffee.« Dann ruft sie auch Nikki an und lädt sie ein. Sie kocht gebratenen Kaktus und mexikanischen Kaffee.

Und so sehen sich die beiden ein erstes Mal wieder. »Ich erkannte ihn kaum«, erzählt Nikki. »Er hatte vierzig Kilo abgenommen.« »Sie war so schön wie immer«, sagt Frank. »Sie trug kurze Bluejeans und ein weißes Top.« Die Liebenden umarmen sich. »Das ist gegen das Gesetz, Großmutter«, sagt Frank, »dafür gehst du ins Gefängnis.« »Von dem Gesetz weiß ich nichts«, sagt sie. Bald darauf stirbt sie in ihrer kleinen Hütte an Herzversagen.

Nun entwickelt Nikkis Großmutter väterlicherseits einen Geheimplan, Lanelle Prescott, 63, religionslos, die resolute Nachfahrin britischer Einwanderer. Sie bringt die beiden spät am Abend heimlich in ihrem kleinen Haus in der Fawn Street zusammen. Sie kocht ihnen Eier auf Zimttoast, sie lässt ihnen Zeit allein, auch für die Liebe. Als Nikkis Mutter unerwartet auftaucht, versteckt die Großmutter Frank und Nikki im Kleiderschrank.

Wenn man so will, sind die Großmütter die Rebellen von Caldwell: eine kranke Mexikanerin, die kaum Englisch spricht, und eine säkulare Britin mit einem Sinn für Romantik. Auch Freunde helfen nun aus und organisieren Treffen. Danach bringen sie Frank im Kofferraum in seinen Trailer.

Frank findet langsam ins Leben zurück. Er renoviert den Schuppen neben dem Haus seiner Großmutter, eine Bruchbude, sein Geburtshaus. Er legt Fliesen, streicht die Küche blau und ein Zimmer pink, Freunde im Ort spenden Möbel und Geschirr. Er plant, hier mit Nikki einzuziehen.

Nikki nutzt die Zeit, um Geld zu verdienen. Sie spart jeden Cent für Töpfe, Pfannen und einen Heißwasserboiler. An ihrem achtzehnten Geburtstag sagt sie ihrer Mutter: »Ich bin jetzt volljährig. Ich ziehe aus.«

Die erste Woche gemeinsam in der Bretterhütte verbringen Nikki und Frank im Bett. Sie pflanzen Tomaten, züchten Hausschweine, sie angeln ihr Abendessen am See. Es könnte das Happy End einer einzigartigen Schulromanze sein, doch Nikki und Frank haben sich verändert. Frank ist gebrochen, hypersensibel, er hat Angst, das Haus zu verlassen. Auch Nikki ist anders, fühlt er, übertrieben vorsichtig und liebevoll. Er fürchtet, dass sie nur aus Schuldgefühl mit ihm zusammen ist.

»Kein Schuldgefühl«, sagt Nikki. »Sondern aus Loyalität. Eine lebenslange Loyalität. Stand by your man.«

Sie heiraten in der Tabor Hall, einem einfachen Gemeindesaal am Dorfrand. Nikki trägt ein ärmelloses weißes Kleid, Frank seine mexikanische Tracht und Cowboyhut. Geld haben sie nicht, also kocht Franks Mutter, Hühner, Reis und Bohnen. Nikkis Mutter liefert das Geschirr. Aber die beiden Familien reden kein Wort miteinander. Auf der einen Seite sitzen die Latinos, Arbeiter, katholisch, Demokraten. Auf der anderen die Weißen, Landbesitzer, protestantisch, Republikaner.

Ein Jahr nach der Hochzeit bekommen Frank und Nikki ihre erste Tochter Analissa, benannt nach Nikkis Großmutter. Ein weiteres Jahr später folgt Josefina, die sie nach Franks Großmutter benennen. Nikki meldet die Kinder im Ortsamt an, sie muss die Rasse angeben und sich zwischen den Kategorien »white« und »hispanic« entscheiden. Sie wählt »hispanic«. Es ist die Rache an ihrer garstigen Mutter, am böhmischen Großvater, am Eurozentrismus des Dorfes.

Für eine Zeit sind sie die glücklichste Familie der Welt. Sie leben von Hausschweinen und Gemüsebeeten und der Weite des texanischen Himmels. Doch mit dem Aufwachsen der Töchter beginnt die eigentliche Tortur. Als registrierter Sexualstraftäter darf Frank mit seinen Kindern nicht auf Spielplätze gehen, er darf die Kita nicht betreten, keine Geburtstagsparty ausrichten. Er hat Angst, seine Töchter anzufassen, sie auf den Arm zu nehmen. Das Baden überlässt er Nikki.

Er ist: ein Vater ohne Rechte.

Die Liste der registrierten Sexualstraftäter von Texas umfasst 57 000 Namen, die der USA über eine halbe Million. Im Kreis Burleson sind 56 Männer erfasst, darunter neben Päderasten und Vergewaltigern auch – für alle im Internet einsehbar unter https://records.txdps.state.tx.us – die Nummer 05730984: »Rodriguez, Frank Jr. Größe: 1,80. Gewicht: 120 Kilo. Schuhgröße: 46. Schuhbreite: unbekannt.« Franks Adresse ist gelistet und das Verbrechen unter der Signatur TX: 11990002: »Sexualangriff auf ein Kind. Alter des Opfers: fünfzehn. Verurteilt zu: sieben Jahren. Status: Bewährung. Laufzeit: unendlich.«

Für viele Amerikaner ist die Liste inzwischen ein Hauptkriterium bei der Wahl des Wohnorts. Keiner will in der Nähe der »Sex Offenders« leben. Also haben viele Kommunen seit den Neunzigerjahren ihre Gesetze verschärft. Registrierte Sex Offenders dürfen sich nicht im Radius von 200 bis 500 Metern zu Schulen, Parks und Spielplätzen aufhalten, in der sogenannten Kindersicherheitszone. Einige Kommunen haben so viele Sicherheitszonen, dass es keinen legalen Aufenthaltsort mehr für Sex Offenders gibt. So bauen die Männer Zeltdörfer unter den Autobahnbrücken Miamis oder den Wäldern Georgias. »Ich verstehe die Angst der Menschen«, sagt Frank. »Ich will doch auch nicht, dass Kinderschänder in meiner Nachbarschaft leben. Aber es sind Menschen.«

Frank muss sich an jedem Geburtstag bei der Polizei melden. Er muss stets einen Ausweis als Sexualstraftäter bei sich tragen, selbst sein Führerschein weist ihn als Sex Offender aus. »Howdy Frank«, grüßt die Polizistin, man kennt sich. Sie nimmt seine Fingerabdrücke und richtet Grüße an die Familie aus. So geht es überall im Dorf: Er ist Täter und Freund zugleich.

Frank fährt weiter ins Zentrum zum Ortsamt. Er geht die Stellenanzeigen der lokalen Betriebe durch. Er hat in zehn Jahren keinen Job gefunden. Der größte Arbeitgeber der Gegend, der Ölgigant Halliburton, hatte durchaus Interesse an dem starken Mann, bis die Personalabteilung auf sein Strafregister stieß. Frank darf weder für die Kommune als Müllmann arbeiten noch aufs College gehen. Er wollte sich freiwillig für den Krieg in Afghanistan melden, aber auch die US Army akzeptiert keine verurteilten Sexualstraftäter. Nikki und Frank träumten davon, die Jugendherberge ihrer Kirche zu leiten, aber die Versicherung lehnte ab. Sie hat Angst vor Millionenklagen.

Frank ist nicht nur ein Vater ohne Rechte. Er ist ein Arbeiter ohne Beschäftigung. Ein Mann ohne Raum. Ein Aussätziger. Das Wort fällt oft in den Gesprächen.

Vor kurzem teilte ihm die Polizei neue Verordnungen des Bezirksrichters mit. Er soll ein Schild in den Vorgarten stellen mit dem Schriftzug: »Gefahr. Hier lebt ein registrierter Sexualstraftäter.« Auch auf das Auto müsse ein Warnhinweis.

»Nur auf der Stirn trage ich noch nichts«, sagt Frank. Er lächelt. Er lacht oft. Er hat es gelernt, sich ein Stück Restleben zu schaffen, in dem er fröhlich ist. Nur wenn man ihn länger begleitet, merkt man, wie gedemütigt er sich am Ende eines Tages fühlt. Wie im Steinbruch bauen sie seine Seele ab, Stück für Stück.

Doch dann passiert etwas Eigenartiges in Caldwell. Unter der Hand bekommt Frank Jobs im Dorf, er repariert Autos und Dachrinnen, er gießt Zement, er legt Fliesen. Alte Freunde beschäftigen ihn als Babysitter, ihn, den vermeintlichen Kinderschänder. Für den Landkreis erschießt er wildernde Kojoten.

Mit den Jahren hat sich Caldwell verändert. Die Kriege in Irak und Afghanistan bringen Halliburton Milliardenprofite und dem Dorf damit Arbeiter aus aller Welt. Inder eröffnen Hotels, Chinesen Restaurants, Caldwell bekommt sogar eine eigene McDonald’s-Filiale, der Ritterschlag für jeden Ort der Provinz. Wie so oft besiegen nicht Gesetze oder wohlmeinende Plädoyers den Rassismus, sondern die Demografie.

Da schlägt nun die Stunde der Rodriguez-Brüder. Lange haben sie Rache geschworen, sich aber stets gegen den Weg vieler Latinos entschieden, eine Gang zu formen. Daniel, 27, der jüngste Bruder, der wie kein anderer unter der Verhaftung seines großen Bruders litt, tritt in die Polizei ein. Der zwei Jahre ältere Phillip, ein geschliffener Redner, wird für die Republikaner in den Gemeinderat gewählt und übernimmt als erster Latino den Vorsitz des Lions Clubs. Er konvertiert zu den Baptisten. »Da kläre ich sonntags in der Kirche mit dem Richter und Staatsanwalt die wichtigen Fälle«, sagt er und grinst.

Sie bekämpfen nicht die Macht. Sie sind jetzt die Macht.

Laut Gesetz müsste die Polizei Franks Nachbarn per Postkarte über seine Taten informieren, aber kein Ordnungshüter hält sich daran. Das Amt ist angehalten, Franks Foto ins Internet auf die Seite der Sex Offenders zu stellen, doch nichts geschieht. Als Frank von einer Mordserie an Sexualstraftätern erfährt, besorgt er sich aus Angst eine Waffe. Er verstößt damit gegen die Bewährungsauflagen, doch die Polizei richtet ihm nur aus: Lass dich nicht erwischen.

Derweil arbeitet sich Nikki im Kreisgericht hoch. Sie wird Assistentin des neuen Dorfrichters und damit Kollegin von Franks Bewährungshelfer Skip Dimon. Man trifft sich auf dem Flur, man kennt sich. Dimon entscheidet eigenhändig, dass Frank keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt. »Bring deine Kinder ruhig zum Kindergarten und Spielplatz«, sagt er ihm, »und wohnen kannst du, wo du willst.«

Wenn man so will, nimmt Caldwell nun, im neuen Jahrtausend, Rache an der eigenen Vergangenheit. Die Bewohner verbünden sich gegen das Gesetz. Ein Einzelner mag nicht über dem Gesetz stehen, ein Dorf aber sehr wohl. Als der neue Sheriff den ähnlichen Fall einer illegalen Jugendliebe auf den Tisch bekommt, entscheidet er: Da ermittle ich gar nicht erst. Ich zerstöre nicht wieder ein Leben.

Für Frank und Nikki war Caldwell ihr Verhängnis. Aber auch ihr Bewährungshelfer. Es war ihr Untergang. Und die Rettung.

An einem Sonntag im Juni laden Frank und Nikki zum Barbecue in ihr neues Haus in der Hull Street. In einem selbst gebauten Grill, groß wie ein Kleinwagen, grillen sie in Bier getränkte Hühner. Alte Jugendfreunde schauen vorbei, Dorfpolizisten, Geschwister. Auch Franks Mutter Margie Rodriguez ist dabei, heute die glückliche Großmutter von dreizehn Enkeln. Alle ihre Kinder haben Weiße geheiratet, eine Tochter sogar einen Schwarzen. Nur Nikkis Mutter, Melissa Wiederhold, ist nicht eingeladen. Sie hat sich bis heute nicht entschuldigt. Sie hat das Dorf inzwischen verlassen.

Franks Freund Jimmy holt sein iPhone heraus, er sagt: »Schau mal Frank, da bist du.« Er zeigt ihm ein beliebtes App, das alle Sex Offenders im Umkreis zeigt. Frank ist dort in der Hull Street markiert, ein roter Punkt auf der Karte. »Ich will es nicht sehen«, sagt Frank. Das Internet, findet er, ist sein eigentliches Gefängnis. »Da bin ich lebenslang ein Kinderschänder. Wenn ich fünfzig bin, wird dort noch immer stehen, dass ich eine 15-Jährige vergewaltigt habe.«

Sehr spät am Abend sitzen Frank und Nikki im Garten. Ihre vier Töchter toben mit den Hunden. Sie sind Latinas, aber blond. Sonntags gehen sie nicht in Franks katholische Kirche oder Nikkis Brethren Church, sondern zu den Lutheranern. Sie kochen italienisch und backen deutsch. Sie sind – in der Sprache ihres Großvaters – weder blaue noch rote Vögel, wenn überhaupt, lila. Sie sind: ein echtes Stück Amerika.

Wer Nikki und Frank beobachtet, beginnt an die ewige Liebe zu glauben. So liebt nur, wer gemeinsam einen Krieg überlebt. »Der Kampf hat uns unbezwingbar gemacht«, sagen beide. »Unsere Liebe hätte es sonst nie bis hierher geschafft.«

»Kinder, kommt mal her«, ruft Frank. »Ich muss euch etwas Wichtiges sagen.« Die Mädchen blicken ihn erschrocken an. Er druckst etwas herum. »Es gab mal eine Zeit, da durften Mama und Papa nicht zusammen sein«, beginnt er. Die Mädchen blicken jetzt noch etwas erschrockener. »Warum nicht?«, fragen sie. Frank blickt zu Nikki. Nikki senkt den Kopf. Frank will etwas sagen, aber seine Stimme bricht weg. Das Wort Sex Offender kommt ihm nicht über die Lippen. Er sagt lieber: »Wir haben uns schon ganz früh geliebt.« Er sagt: »Und jetzt geht spielen.«

Im Sommer nun wird der letzte Akt des langen Dramas von Caldwell beginnen. Frank und Nikki wollen gegen seine lebenslange Registrierung als Sex Offender prozessieren. Das Geld für den Anwalt haben sie nicht, 7500 Dollar, aber sie hoffen auf Spenden. Sie wollen auch eine Petition für seine Amnestie starten.

Der Fall würde dann zum Politikum im Landkreis. Die Richter und Politiker stehen vor einer schweren Entscheidung. Sie können sich für einen Sexualstraftäter entscheiden – oder das Gesetz. Für die Liebe – oder die Partei. Für die Bürger – oder die Karriere. Für den einen Gott – oder den anderen.

So werden Wahlen entschieden in 77836 Caldwell, Texas, Land of the Free.

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Jan Christoph Wiechmann


Jan Christoph Wiechmann, ist Autor beim "stern". Von 2003-2010 war er als US-Korrespondent in New York. Gewinner Egon Erwin Kisch Preis 2002. Henri Nannen Preis 2010 (gemeinsam mit Giuseppe di Grazia und Katja Gloger). 2013 Hansel-Mieth-Preis.
Dokumente
Romeo und Julia in Texas

erschienen in:
Neon,
am 19.07.2010

 

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